Ich bin ein Leasingmann in der Pflege. Ich komme rum, sehe viel – zu viel, das mir seelisch Schmerzen zufügt. Ich halte die Hand einer alten Dame, in einem Heimbett. Trostlosigkeit … Einsamkeit … Warten auf den Tod. Hab sie gerade von alter Scheisse und Pisse befreit, in der sie seid Stunden lag. Ich halte ihre Hand und sie weint. Presst mit letzter Kraft ein «Dankeschön» heraus. Und: «Sie sind so lieb». Ich möchte heulen, schluck es aber runter. Fuck, ich tue nur, was getan werden muss und sollte.
Wo leben wir, wenn tausende Menschen, die unsere pflegende Hilfe brauchen, schon dankbar sind für ein Lächeln, eine Hand, die ihre hält? Warum schweigt ihr alle, wenn massenhaft Geld in Heimen abgezockt wird mittels Betrug, mittels mangelhafter Pflege, zu wenigen Pflegeartikeln und Menschen, die nicht ausgebildet sind, aber billig.
Alte, Alzheimer-Betroffene, Behinderte. Sie vergammeln, sie vereinsamen, warten auf den Tod. Denn der ist verlockender als das, was sie umgibt. Wie könnt ihr nur ruhig dasitzen? Über Nichtigkeiten plaudern, Freundlichkeiten austauschen, Nettigkeiten? Ihr bettelt, stellt Forderungen an Personen, die sich einen Dreck um Euch scheren. Weil sie ihr Klientel bedienen müssen, die Pflegeindustrie, die Hedgefonds-Manager. Labernd geht ihr eurer eigenen Pflegehölle entgegen.
Ich kann nur reden, schreiben, anstossen. Ich bin kein Organisator, keiner, der Menschen hinter sich sammelt. Mir bleiben Worte und vielleicht nicht mehr viel Zeit, zum Mahnen. Habt ihr es auch schon gemerkt? Der Mensch hinter dem Blog «Demenz frisst meine Seele» hat sich verändert.
«Er ist so aggressiv geworden», höre und lese ich immer öfter. Und ich spüre die Genervtheit auf der anderen Seite. Es tut sich ein Unwillen auf sich «noch länger» mit «so einer Person» abzugeben. Ja sorry, ich kann da gar nicht widersprechen. Ich merke es ja auch an mir. Ich bin nicht nur öfter wütend und genervt, manchmal aggressiv, wenn ich schreibe. Auch im Alltag, wenn es etwas zu kommentieren gibt, draussen. Selten kann ich die Klappe halten. Muss überall meinen Senf dazu geben.
Mir selber wäre das gar nicht so aufgefallen, aber mein Mann, der rollt mit den Augen, wenn er mich anschaut. Oder er schaut böse. Ups, dann weiss ich, ich bin mal wieder zu weit gegangen, in dem, was aus meinem Mund heraus purzelt. Das Perfide an einer frühen Demenz oder einer beginnenden Demenz ist, das das Vergessen so schleichend ist. Es schmerzt nicht, es macht keine Geräusche. Bestimmte Erinnerungen sind einfach weg. Entschweben wie Luftballons auf Nimmerwiedersehen. Aber es ist eben nicht alles, das verschwindet. Bei mir sind es Namen und oft Gesichter. Im Alltag kann eine Einkaufstasche in einem Moment von mir durch einen Laden getragen werden. Ich stelle sie kurz ab und schon ist sie vergessen. Schaue etwas an und gehe weiter. Die Tasche existiert nicht mehr für mich.
Oder: ich schaue in einen Garderobenschrank. Als ich kam hatte ich einen Mütze und einen Schal dabei. Ich schaue in den Schrank und sehe? Nix. Erst draussen, als mir der kalte Wind um die Ohren saust, denke ich, wo zum Teufel sind denn Schal und Mütze abgeblieben? In meinem Kopf waren die beiden Sachen, als ich vor dem Schrank stand, nicht existent, weil ich sie in dem Moment nicht suchte. Der Blick ging drüber weg weil der Kopf die Mütze und den Schal nicht auf der Platte hatte.
Ich liebe, was ich tue, und das scheint rüber zu kommen. Schon nach zwei Monaten bin ich «das beste Pferd im Stall», so mein Boss. Das geht bei mir runter wie gutes Olivenöl. Mit einer frühen Freemens/Demenz zu arbeiten, ist immer wieder eine Herausforderung. Gerade als Leasingkraft.
Jeden neuen Tag ein anderer Arbeitsplatz. Namen sind für mich die grösste Hürde. Am Ende jeder Schicht wirbeln Namen, Gesichter, Eindrücke wild durch meinen Kopf und nichts lässt sich mehr einordnen. Wenn ich auf dem Weg nach Hause bin, lasse ich einen Arbeitstag zurück. Vergesse ihn, kann vergessen weil es nichts gibt, was ich behalten müsste.
Aber…etwas bleibt immer. Das sind kleine, schöne Momente. Ein Lächeln, ein ehrliches Dankeschön. Ein Kompliment, eine Erleichterung bei meinem Gegenüber. Das ist dann mein Lohn für diesen Arbeitstag. Das Geld ist eher nebensächlich. Nur interessant auf dem Kontostand.
Ich wurschtel mich durch. Der Horror sind all die Zimmernummer, Bewohnernamen, die dazu gehörigen Gesichter. Leider gibt es nur in sehr wenigen Häusern Bilder der Bewohner an den Türen mit ihren Namen. So renne ich durch die Flure. Ist in der Mitte die Küche, das Dienstzimmer, muss ich immer wieder fragen … Frau Schneider, rechts runter oder links? Die Arbeit an sich bereit überhaupt keine Mühe. Empathie vergisst sich nicht. Die ist da und bleibt.
Ich möchte ein paar Worte zum Thema Demenz und Tod sagen. Ein Thema, das fast überall ausgeklammert wird. Es ist ein Tabu, eine Sache die man solange vor sich hin verschleppt, bis der Tod tatsächlich an die Tür klopft und man ihm nicht mehr ausweichen kann. Jeder Demenzbetroffene, der/die sich bewusst mit der eigenen Demenz auseinandersetzt, wird sich irgendwann damit beschäftigen, wie der letzte Lebensabschnitt aussehen soll. Möchte ich ein Ende mit Schrecken oder einen selbstbestimmten Abgang, der gefühlsmäßig schmerzvoll sein wird, aber noch bei halbwegs klarem Bewusstsein?
Möchte ich den dementen Weg bis zum Ende gehen wollen? Mit einem Geist der völlig vernebelt ist und wo sich im günstigsten Fall ab und an der Vorhang hebt um einen Blick in die Realität zu werfen. Für Sekunden, Minuten. Mitten in einer Pflegehölle, wo mehr schief läuft als das man es human nennen könnte? In einem Wartesaal des Todes? Oder möchte ich vorher meinem Leben ein bewusstes Ende setzten?
Ich habe dieses Jahr den Schrecken des Todes verloren, als ich meine Ma beim Sterben begleiten durfte. Es waren unglaubliche Momente. Schöne, die ich nicht missen möchte. Von der Diagnose – Krebs im Endstadium – bis zu ihrem letzten Atemzug waren es dreieinhalb Wochen. Als klar war, das nichts mehr zu machen war, verweigerte sie jede weitere Behandlung.
Sie entschied sich ganz bewusst dafür, das es genug ist. Sie wollte in kein Heim. Keine künstliche Verlängerung. «Ich habe mein Leben gelebt. Es ist genug. Ich werde gehen.» Und sie ging. Zwei Stunden, nachdem sie mit mir bei klarem Verstand noch mal gesprochen hatte, schlief sie friedlich ein. Mein Bruder und ich sassen in jener Nacht noch lange bei ihr. Ich öffnete das Fenster, auf dass ihr Geist den Raum verlassen konnte.
Eine Woche später hielt ich, bevor sie in die kalte Erde versenkt wurde, ihre Hand. Mein Mann, unsere Hunde, wir haben uns von ihr verabschiedet und es war wunderbar. Sie sah so ganz anders aus. Das war eine Frau ohne Maske, die mich in diese Welt geworfen hatte. Jetzt gab ich ihr das letzte Geleit. Ich war das erste mal stolz auf meine Ma. Das sie diese unglaubliche Kraft besass, am Ende ihres Lebens. Ohne Jammern, ohne Klagen. Mit einem Lächeln. Sie ist mein Vorbild geworden. Mit einem Lächeln und den Liebsten um sich herum den letzten Weg gehen. Das ist was ich möchte.
Ob ich es so umsetzen kann, ob ich die Kraft haben werde, im noch klaren Bewusstsein, solch eine Entscheidung zu fällen, weiß ich nicht. Wir Menschen klammern uns ja gern bis zum geht nicht mehr an unser Leben und sei es noch so erbärmlich. Dazu gehören die Menschen die wir zurück lassen müssen. Die, die wir lieben, und von denen wir uns nicht mal so eben trennen können/wollen. Zu wissen, dass es ihnen echt dreckig gehen wird, wenn sie unser Sterben begleiten. Die Leere, die wir hinterlassen werden, und die nicht einfach zu füllen sein wird.
Wir müssen über den Tod und Demenz reden. Offen und mutig und uns dafür einsetzen, das die rechtlichen Behinderungen, die in den deutschsprachigen Ländern sehr unterschiedlich sind, uns die Möglichkeit geben, menschenwürdig unseren letzten Weg zu gehen.