Rückblick Zürich 2019

So war das Demenz Meet Zürich 2019

Martin Mühlegg von alzheimer.ch

Neue Ära im Umgang mit Demenz

Am 3. Zürcher Demenz Meet begegneten sich Betroffene, Angehörige, Pflegende, Experten, Politiker und Wissenschaftler auf Augenhöhe. Die stimmige und inspirierende Veranstaltung steht für einen Wandel im Umgang mit Demenz.

Die Angehörige Sonja Hochstrasser spricht von empathielosen Ärzten und unverständigen Beamten. Die Spitex-Kaderfrau Claudia Günzel berichtet von Dokumentationswahn, abgewiesenen Gesuchen und ignoranten Bürokraten. Sie habe das Gefühl, die Titanic durch die Wüste ziehen zu müssen, sagt sie in ihrem engagierten Referat.

Die Pflegefachfrau und Demenzaktivistin Cristina de Biasio berichtet, es sei sehr schwierig, sinnvolle Projekte über einen längeren Zeitraum nachhaltig zu finanzieren. Mehrere Angehörige berichten von schwierig auszufüllenden Formularen und Spiessrutenläufen durch die Behörden.

Als meine Grossmutter vor gut 40 Jahren vergesslich wurde, sprach man von Arterienverkalkung. Menschen mit kognitiven Einschränkungen wurden damals in der Öffentlichkeit verspottet oder zu Hause versteckt. Mancherorts kam es zu häuslicher Gewalt, weil die Angehörigen keine Instrumente im Umgang mit Menschen mit Demenz kannten und oft die Grenzen zur Überforderung überschritten. Es gab kaum Demenz-Fachleute und -Literatur. Wer Menschen mit Demenz pflegte – ob privat oder beruflich – war auf sich gestellt. Ganz zu schweigen von den Betroffenen.

Ab den 1990-Jahren rückte das Thema langsam aber stetig in den Fokus der Öffentlichkeit. Es kam die Zeit der Demenz-Pioniere, die ihr Wissen in Medien, Referaten und Büchern teilten. Das Wissen verbreitete sich und sorgte dafür, dass Menschen mit Demenz besser begleitet wurden und mehr Lebensqualität erfahren durften. Die Betroffenen selber sind bis heute in der Öffentlichkeit kaum zu sehen.

Die Scham vor Fehlleistungen in einem Alltag, der höchste kognitive Fähigkeiten erfordert, ist nach wie vor gross. Die meisten Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen trauen sich nicht, ihre Anliegen offen mitzuteilen. Selbsthilfegruppen tagen hinter verschlossenen Türen. An Kongressen, Symposien und Treffen aller Art stehen die Experten (in der Regel Männer) auf dem Podium und teilen mit, wie es geht. Die Betroffenen, Angehörigen und Pflegenden (mehrheitlich Frauen) sitzen derweil still im Publikum.

Das Zürcher Demenz Meet steht für neue Ära und die dritte Phase im Umgang mit Demenz. Die herzliche und unkomplizierte Art dieser Veranstaltung ermuntert Betroffene, Angehörige und Menschen aus der Praxis zur Offenheit. Sie ermöglicht das vertraute Gespräch (man duzt sich) zwischen Wissenschaftlern und Pflegenden, zwischen Beamten und Betroffenen, zwischen Angehörigen und Politikern.

Initiant und Organisator Daniel Wagner und seine Idee des Austausches auf Augenhöhe machen Karriere. In diesem Jahr fanden Demenz Meets in Zürich, Basel und Wien statt. Wahrscheinlich wird es im kommenden Jahr noch mehr Meets geben. Das ist nicht nur erfreulich, sondern auch nötig.

Die Liste der Forderungen an «die da oben» ist lang. Doch denken wir – genau wie in der Betreuung von Menschen mit Demenz – an die Ressourcen und lassen die zu Wort kommen, die Positives zu berichten haben. Der Betroffene Beni Steinauer und sein Ehemann Rolf Könemann zeigen auf, wie wichtig eine offene Kommunikation ist und wie viel liebevolle Unterstützung sie dank ihr bekommen.

Die Familie Bak, in der die Mutter an Demenz erkrankt ist, kommt samt Hunden auf die Bühne und berichtet von ihrem Vorhaben, die Menschen zu mehr Leichtigkeit im Umgang mit Demenz zu ermuntern. Der Angehörige Robert Briner hat dank seinem Tagebuch zu einer sinnvolleren Medikation beigetragen. Und die Heimleiterin Brigitte Meister ermöglicht gewissen Bewohnern mit dem Engagement einer Berührerin Sternstunden.

Es lohnt sich eben, Mut zu haben und unkonventionelle Wege zu gehen. Und es lohnt sich, hinzustehen und zu sagen, was es braucht und was es nicht braucht. Daniel Wagner und sein Team von Demenz Zürich haben den Rahmen dazu geschaffen. Dafür gebührt ihnen grosser Dank.

Erster Tag

Diskussionspanels

«Nationale Demenzstrategie», «Demenzfreundliche Gemeinde» und «Demenz in jungen Jahren» – drei wichtige und engagierte Diskussionspanels unter der Moderation von Karin Frei (Ex-Club SRF).

Karin Frei im Gespräch mit Monique Arts (Kanton Zürich)

Kommentar Michael Haimerl

Ich, meine Demenz und die Gesellschaft

Ich bin der aus Berlin. Demenz frisst meine Seele. Mittlerweile auch die Pflege. Und ihre Un-Umstände. Die Ignoranz oder Angst, etwas dagegen zu unternehmen. Ernsthaft! Wir reden, sind nett und freundlich, plaudern um ein riesen Loch herum, das gedeckelt wird von Ignoranz und Freundlichkeit. Hebt man den Deckel, stinkt es nach Pisse, Scheisse, Elend.

Ich bin ein Leasingmann in der Pflege. Ich komme rum, sehe viel – zu viel, das mir seelisch Schmerzen zufügt. Ich halte die Hand einer alten Dame, in einem Heimbett. Trostlosigkeit … Einsamkeit … Warten auf den Tod. Hab sie gerade von alter Scheisse und Pisse befreit, in der sie seid Stunden lag. Ich halte ihre Hand und sie weint. Presst mit letzter Kraft ein «Dankeschön» heraus. Und: «Sie sind so lieb». Ich möchte heulen, schluck es aber runter. Fuck, ich tue nur, was getan werden muss und sollte.

Wo leben wir, wenn tausende Menschen, die unsere pflegende Hilfe brauchen, schon dankbar sind für ein Lächeln, eine Hand, die ihre hält? Warum schweigt ihr alle, wenn massenhaft Geld in Heimen abgezockt wird mittels Betrug, mittels mangelhafter Pflege, zu wenigen Pflegeartikeln und Menschen, die nicht ausgebildet sind, aber billig.

Alte, Alzheimer-Betroffene, Behinderte. Sie vergammeln, sie vereinsamen, warten auf den Tod. Denn der ist verlockender als das, was sie umgibt. Wie könnt ihr nur ruhig dasitzen? Über Nichtigkeiten plaudern, Freundlichkeiten austauschen, Nettigkeiten? Ihr bettelt, stellt Forderungen an Personen, die sich einen Dreck um Euch scheren. Weil sie ihr Klientel bedienen müssen, die Pflegeindustrie, die Hedgefonds-Manager. Labernd geht ihr eurer eigenen Pflegehölle entgegen.

Ich kann nur reden, schreiben, anstossen. Ich bin kein Organisator, keiner, der Menschen hinter sich sammelt. Mir bleiben Worte und vielleicht nicht mehr viel Zeit, zum Mahnen. Habt ihr es auch schon gemerkt? Der Mensch hinter dem Blog «Demenz frisst meine Seele» hat sich verändert.

«Er ist so aggressiv geworden», höre und lese ich immer öfter. Und ich spüre die Genervtheit auf der anderen Seite. Es tut sich ein Unwillen auf sich «noch länger» mit «so einer Person» abzugeben. Ja sorry, ich kann da gar nicht widersprechen. Ich merke es ja auch an mir. Ich bin nicht nur öfter wütend und genervt, manchmal aggressiv, wenn ich schreibe. Auch im Alltag, wenn es etwas zu kommentieren gibt, draussen. Selten kann ich die Klappe halten. Muss überall meinen Senf dazu geben.

Mir selber wäre das gar nicht so aufgefallen, aber mein Mann, der rollt mit den Augen, wenn er mich anschaut. Oder er schaut böse. Ups, dann weiss ich, ich bin mal wieder zu weit gegangen, in dem, was aus meinem Mund heraus purzelt. Das Perfide an einer frühen Demenz oder einer beginnenden Demenz ist, das das Vergessen so schleichend ist. Es schmerzt nicht, es macht keine Geräusche. Bestimmte Erinnerungen sind einfach weg. Entschweben wie Luftballons auf Nimmerwiedersehen. Aber es ist eben nicht alles, das verschwindet. Bei mir sind es Namen und oft Gesichter. Im Alltag kann eine Einkaufstasche in einem Moment von mir durch einen Laden getragen werden. Ich stelle sie kurz ab und schon ist sie vergessen. Schaue etwas an und gehe weiter. Die Tasche existiert nicht mehr für mich.

Oder: ich schaue in einen Garderobenschrank. Als ich kam hatte ich einen Mütze und einen Schal dabei. Ich schaue in den Schrank und sehe? Nix. Erst draussen, als mir der kalte Wind um die Ohren saust, denke ich, wo zum Teufel sind denn Schal und Mütze abgeblieben? In meinem Kopf waren die beiden Sachen, als ich vor dem Schrank stand, nicht existent, weil ich sie in dem Moment nicht suchte. Der Blick ging drüber weg weil der Kopf die Mütze und den Schal nicht auf der Platte hatte.

Ich liebe, was ich tue, und das scheint rüber zu kommen. Schon nach zwei Monaten bin ich «das beste Pferd im Stall», so mein Boss. Das geht bei mir runter wie gutes Olivenöl. Mit einer frühen Freemens/Demenz zu arbeiten, ist immer wieder eine Herausforderung. Gerade als Leasingkraft.

Jeden neuen Tag ein anderer Arbeitsplatz. Namen sind für mich die grösste Hürde. Am Ende jeder Schicht wirbeln Namen, Gesichter, Eindrücke wild durch meinen Kopf und nichts lässt sich mehr einordnen. Wenn ich auf dem Weg nach Hause bin, lasse ich einen Arbeitstag zurück. Vergesse ihn, kann vergessen weil es nichts gibt, was ich behalten müsste.

Aber…etwas bleibt immer. Das sind kleine, schöne Momente. Ein Lächeln, ein ehrliches Dankeschön. Ein Kompliment, eine Erleichterung bei meinem Gegenüber. Das ist dann mein Lohn für diesen Arbeitstag. Das Geld ist eher nebensächlich. Nur interessant auf dem Kontostand.

Ich wurschtel mich durch. Der Horror sind all die Zimmernummer, Bewohnernamen, die dazu gehörigen Gesichter. Leider gibt es nur in sehr wenigen Häusern Bilder der Bewohner an den Türen mit ihren Namen. So renne ich durch die Flure. Ist in der Mitte die Küche, das Dienstzimmer, muss ich immer wieder fragen … Frau Schneider, rechts runter oder links? Die Arbeit an sich bereit überhaupt keine Mühe. Empathie vergisst sich nicht. Die ist da und bleibt.

Ich möchte ein paar Worte zum Thema Demenz und Tod sagen. Ein Thema, das fast überall ausgeklammert wird. Es ist ein Tabu, eine Sache die man solange vor sich hin verschleppt, bis der Tod tatsächlich an die Tür klopft und man ihm nicht mehr ausweichen kann. Jeder Demenzbetroffene, der/die sich bewusst mit der eigenen Demenz auseinandersetzt, wird sich irgendwann damit beschäftigen, wie der letzte Lebensabschnitt aussehen soll. Möchte ich ein Ende mit Schrecken oder einen selbstbestimmten Abgang, der gefühlsmäßig schmerzvoll sein wird, aber noch bei halbwegs klarem Bewusstsein?

Möchte ich den dementen Weg bis zum Ende gehen wollen? Mit einem Geist der völlig vernebelt ist und wo sich im günstigsten Fall ab und an der Vorhang hebt um einen Blick in die Realität zu werfen. Für Sekunden, Minuten. Mitten in einer Pflegehölle, wo mehr schief läuft als das man es human nennen könnte? In einem Wartesaal des Todes? Oder möchte ich vorher meinem Leben ein bewusstes Ende setzten?

Ich habe dieses Jahr den Schrecken des Todes verloren, als ich meine Ma beim Sterben begleiten durfte. Es waren unglaubliche Momente. Schöne, die ich nicht missen möchte. Von der Diagnose – Krebs im Endstadium – bis zu ihrem letzten Atemzug waren es dreieinhalb Wochen. Als klar war, das nichts mehr zu machen war, verweigerte sie jede weitere Behandlung.

Sie entschied sich ganz bewusst dafür, das es genug ist. Sie wollte in kein Heim. Keine künstliche Verlängerung. «Ich habe mein Leben gelebt. Es ist genug. Ich werde gehen.» Und sie ging. Zwei Stunden, nachdem sie mit mir bei klarem Verstand noch mal gesprochen hatte, schlief sie friedlich ein. Mein Bruder und ich sassen in jener Nacht noch lange bei ihr. Ich öffnete das Fenster, auf dass ihr Geist den Raum verlassen konnte.

Eine Woche später hielt ich, bevor sie in die kalte Erde versenkt wurde, ihre Hand. Mein Mann, unsere Hunde, wir haben uns von ihr verabschiedet und es war wunderbar. Sie sah so ganz anders aus. Das war eine Frau ohne Maske, die mich in diese Welt geworfen hatte. Jetzt gab ich ihr das letzte Geleit. Ich war das erste mal stolz auf meine Ma. Das sie diese unglaubliche Kraft besass, am Ende ihres Lebens. Ohne Jammern, ohne Klagen. Mit einem Lächeln. Sie ist mein Vorbild geworden. Mit einem Lächeln und den Liebsten um sich herum den letzten Weg gehen. Das ist was ich möchte.

Ob ich es so umsetzen kann, ob ich die Kraft haben werde, im noch klaren Bewusstsein, solch eine Entscheidung zu fällen, weiß ich nicht. Wir Menschen klammern uns ja gern bis zum geht nicht mehr an unser Leben und sei es noch so erbärmlich. Dazu gehören die Menschen die wir zurück lassen müssen. Die, die wir lieben, und von denen wir uns nicht mal so eben trennen können/wollen. Zu wissen, dass es ihnen echt dreckig gehen wird, wenn sie unser Sterben begleiten. Die Leere, die wir hinterlassen werden, und die nicht einfach zu füllen sein wird.

Wir müssen über den Tod und Demenz reden. Offen und mutig und uns dafür einsetzen, das die rechtlichen Behinderungen, die in den deutschsprachigen Ländern sehr unterschiedlich sind, uns die Möglichkeit geben, menschenwürdig unseren letzten Weg zu gehen.

Wrap up

Live Cartoon

Die Zusammenfassung des Tages gibts als Live Cartoon: 10 Minuten mit dem humorvollen, schonungslosen Blick von aussen. Danke, Jonas Raeber, wir haben Tränen gelacht!

Impressionen Freitag

Eindrücke und Schnappschüsse

Ein Ort, zwei Tage, 50 Speaker und 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Das war das Demenz Meet Zürich 2019. Lebendig, bunt, bewegend – schön wars im Kulturmarkt im angesagten Kreis 3.

Demenzdiakonisse Brigitta Schröder gönnt sich ein Fussbad
Michael aus Berlin, Blogger «Demenz frisst meine Seele»
Die Pflegehexe, Madame Malevizia
Kämpferin ihr Leben lang: Käthy Möckli
Freitags-Panels live gestreamt auf Facebook
Experten, Angehörige und Betroffene auf Augenhöhe
Zum dritten Mal im Zürcher Kulturmarkt
Sommerliche Piazza mit Ausstellern im Innenhof
«Geht raus und lebt!»

Zweiter Tag

Geschichten, Träume
& Impulse

Beni Steinauer und Rolf Könemann, Ehepaar

Im Mai 2017 wurde bei Beni Lewy-Body-Demenz diagnostiziert. Diese Nachricht war für uns ein ziemlicher Schock. Wir beide waren mit dieser Krankheit noch nie im Familien- oder Freundeskreis in Berührung gekommen. Für uns war Demenz eine Krankheit, die man normalerweise nur von sehr viel älteren Leuten kannte. Das Demenz auch jüngere Personen treffen kann, war für uns neu, und deshalb hatten wir anfangs Mühe, uns mit dem Thema auseinander zu setzen.

Wir hatten Schwierigkeiten offen über die Krankheit zu reden. Wir hatten Angst, vor dem was die Zukunft bringen könnte. Wir schwiegen, um uns gegenseitig nicht zu belasten. Stattdessen recherchierte jeder für sich im Netz und wir erfuhren für uns schreckliche Dinge, die auf uns zukommen könnten.

Das war natürlich der falsche Weg, der uns sehr belastete. Wir mussten miteinander reden. Irgendwann konnten wir das auch, und das war gut so. Der erste Schritt zur Hilfe.Die wichtigsten Erkenntnisse waren für uns damals:

Leben und geniessen wir unser Leben – hier und jetzt!

Die Vergangenheit können wir nicht verändern. Die Zukunft aber können wir versuchen, positiv zu gestalten. Negative Gedanken um unsere Zukunft bringen nichts, denn so können wir die Gegenwart nicht geniessen.

Zweite Erkenntnis: sich soviel informieren wie möglich, und zwar nicht durch allgemeine Infos aus dem Internet, wie die Krankheit verlaufen könnte, sondern Austausch und Infos aus dem wirklichen Leben. Dabei wurden wir auf das erste Demenz Meet hier in Zürich aufmerksam.
Und die Teilnahme zu diesem Meet war für uns eine gute, eine wegweisende Entscheidung.

Hier trafen wir Leute, denen es ähnlich erging. Hier konnte man sich austauschen, lachen, weinen, diskutieren und offen über seine Ängste und Wünsche reden. Wir waren zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, und das hat uns sehr geholfen.

Danke dafür.

Beni lernte, offen über seine Krankheit zu reden, sie zu akzeptieren. Es war sozusagen Benis «Coming Out» als Betroffener. Dieser offene Umgang mit der Krankheit hat uns sehr viel positive Erfahrungen bereitet.

Sei es die freundliche Verkäuferin im Kaufhaus, die ihre Kasse schloss, und die Kunden zu einer anderen Kasse schickte. Beni sagte ihr, dass er Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen und Geld habe, und das alles nicht mehr so schnell geht. Sie hatte dafür grosses Verständnis und nahm sich Zeit.

Oder sei es, wenn Beni jemanden bitten muss, ihm beim Betreten einer Rolltreppe zu helfen, da er dort sehr unsicher ist. Oder der freundliche Postmitarbeiter, der regelmässig Formulare ausfüllt, weil Beni nicht mehr schreiben kann. Oder die ältere Dame in der Tram, mit der Beni ins Gespräch kommt.

Wir haben bisher durchweg positive Erfahrungen gemacht. Wenn wir Hilfe erfragen, ist die Reaktion immer verständnisvoll und hilfsbereit. Auch die Gespräche, die sich oftmals daraus entwickeln, bereichern nicht nur uns, sondern wir merken oft, dass viele über Demenz zu wenig wissen und sich sehr interessiert zeigen.

Deshalb, mein Wunsch, mein Traum, unser Traum: Hoffentlich gelingt es vielen Menschen, offen mit ihrer Krankheit umzugehen. Es wäre schön, wenn sich mehr trauen würden, auf sich aufmerksam zu machen. So können wir dazu beitragen, mehr Gehör, mehr Aufmerksamkeit, mehr Akzeptanz zu finden. Und je mehr die Gesellschaft über Demenz weiss, desto besser für uns alle.

Deshalb unser Motto: Geht raus und fangt zu leben an!

«Die Titanic durch die Wüste ziehen»

Claudia Günzel, Spitex

Manchmal fühle ich mich, als würde ich die Titanic an Seilen durch eine Wüste ziehen.

Ich habe als Teamleitung bei der Spitex nicht etwa viel damit zu tun, meine Mitarbeitenden zu führen. Ich muss meinem Team einbläuen, dass sie die Pflegeberichte so ausführlich schreiben müssen, dass sie dafür manchmal genauso viel Zeit benötigen wie für die Pflege an sich. Ich muss zusehen, wie eine Pflegefachfrau mehr am Computer sitzt, als sich beim Kunden aufzuhalten. Und ich frage mich: Was hat sie eigentlich nochmal gelernt?

Ich muss über unseren Spitex-Fond Geld für Einkäufe bei einer an Frühdemenz erkrankten Frau besorgen, weil sie seit Monaten auf den IV-Rentenbescheid wartet und sich kaum etwas zu essen leisten kann.

Wir gleisen Pflegesituationen kostenlos auf, damit ein demenzkranker Mensch nicht per Gerichtsbeschluss in eine Psychiatrie eingewiesen wird, weil er alles ablehnt und uneinsichtig ist und es Geduld und Zeit braucht, dies aber keiner zahlen will. Obwohl der Aufenthalt in der Psychiatrie ganz sicher viel kostenintensiver wäre.

Ich ärgere mich masslos, weil wir Reihen von Beweisketten auftürmen müssen, damit man uns überhaupt glaubt, dass wir pflegen. Ich muss mit Spezialistinnen der Krankenkassen um Pflegeminuten feilschen. Mein Gesuch um Erhöhung der Pflegeleistungen bei einem fast 100-jährigen Mann mit mittelschwerer Demenz wurde abgelehnt, da die Verlangsamung keine Begründung ist. Und ich weiss, es ist nicht richtig, aber ich wünschte, der Vater der Spezialistin würde an seiner Stelle sein.

Eine Spezialistin einer anderen Krankenkasse schreibt einer an Demenz erkrankten Frau, dass es ihr kaum mehr möglich sein dürfte, sich selbstständig in ihrer gewohnten Umgebung zurechtzufinden. Die Kasse zahlt nur noch einen Teil der Kosten. Für den Rest muss die Frau allein aufkommen, wenn sie weiterhin zu Hause leben möchte. Im selben Brief teilt die Spezialistin der Frau mit, dass sie gegen den Entscheid ja gerichtlich vorgehen könne. Und ich weiss, es ist nicht richtig, aber ich wünschte mir, es wäre die Mutter dieser Spezialistin, die dieses Schreiben bekommt.

Eine alte Dame mit mittelschwerer Demenz, die findet, dass sie alles noch allein kann, in Wirklichkeit aber fast nur noch im Bett liegt und wird von der Spitex gepflegt und betreut. Zwei Jahre lang haben wir Anträge auf Hilflosenentschädigung gestellt. Sie wurden immer abgelehnt. Ich habe gestritten, bis endlich ein Gutachter persönlich vorbei kam und sich einen Überblick bei der Dame zuhause verschafft hat. Und siehe da: Sie bekam eine mittlere Hilflosenentschädigung zugesprochen. Und ich wünschte, die Sachbearbeiterin in der IV-Stelle hätte von ihrem Schreibtisch aufgeschaut und ihr Herz eingeschaltet.

In solchen Momenten möchte ich dann einfach nur noch die Seile meiner Titanic loslassen, weil es so aussichtslos erscheint und ich drohe im Sand zu versinken. Dann aber frage ich mich, wer kümmert sich um die Belange dieser Menschen, wenn ich nicht mehr weiter mache?

Wer kann diesen Kampfgeist aufbringen? Die erkrankten Menschen selbst? Die pflegenden Angehörigen, denen das Wasser oft eh schon bis zum Hals steht? Wer überwacht eigentlich die Entscheide der Behörden und Krankenkassen- dass sie nicht willkürlich ausfallen?

Manchmal wünschte ich mir, mit der Krankheit Demenz wäre viel Geld zu verdienen, denn dann hätten diese Menschen sicher eine grosse Lobby. Doch Demenz kostet nur. Es gibt an so vielen Fronten Unklarheiten, Lücken und ungelöste Probleme.

Aber ich habe auch Hoffnung. Immer wenn ich an meine über 40 Mitarbeitenden denke, welche tagtäglich Menschen mit einer Demenzerkrankung zu Hause mit so viel Herz, Geduld und Kreativität durch den Tag führen und pflegende Angehörige so wohlwollend unterstützen.

Immer wenn ich an meine Pflegefachleute denke, welche das Schreiben einer Pflegeplanung immer weiter perfektionieren, damit diese auch vor Spezialisten der Krankenkasse Bestand haben.

Immer wenn Projekte die helfen, trotz aller Widrigkeiten in gemeinsamer Zusammenarbeit entstehen. Und auch heute hier so viele Menschen, die bereit sind, auf ihre Art etwas zu unternehmen, etwas zu bewirken.

Also nehme auch ich die Seile meiner Titanic wieder auf und ich werde sie weiter durch den Sand ziehe – denn auch ich werde einmal alt sein… Und ich wünsche mir, dass all die Forderungen, die heute in dieses Manifest fliessen, dann selbstverständlich sind. Und ich wünsche mir, dass es dann nicht mehr nötig ist, dass jemand für mich kämpfen muss.

«Demenz gesellschaftstauglich machen»

Youn-Chong und Su Chong Bak, Töchter

Unsere persönliche Geschichte begann im Herbst 2014 als unser Vater ein Unfall erlitt. Befund: in Lebensgefahr mit einem mittelschweren Schädel-Hirn-Trauma, Genesung unbekannt. Der Schock war gross! Was dieser Unfall noch mit sich brachte, wurde uns erst später bewusst. Während einem Jahr lag unser Fokus beim Vater. Was uns jedoch entging, waren die ersten Anzeichen der unheilbaren Krankheit Alzheimer bei unserer Mutter.

Durch ihre Offenheit und ihre Selbsterkennung konnte sie uns selbst darauf aufmerksam machen. Ihre Krankheit wurde erst bei der dritten neurologischen und neuropsychologischen Untersuchung Ende letzten Jahres bestätigt. Demenz ist unheilbar und niemand kann uns eine klare Antwort geben, warum immer mehr Menschen an Demenz erkranken. Durch unsere persönlichen Erfahrungen erklären wir Demenz als eine Krankheit der heutigen Gesellschaft, und somit eine Krankheit des 21. Jahrhunderts.

Unsere Interpretation, warum immer mehr Menschen an Demenz erkranken, ist der Ist-Zustand der Welt und somit der dazu gehörende Stress – sei es nun beruflich oder persönlich – und das Vereinsamen – sei es nun zu Hause oder in der Gesellschaft (was übrigens wiederum mit Stress verlinkt sein kann). Natürlich ist es auch so, dass heute der Mensch im Vergleich zu früher älter wird, was dann zu Altersdemenz führen kann – aber nicht muss!

Unser Traum, den wir mit allen möglichen Mitteln und Unterstützungen verwirklichen möchten, ist Demenz gesellschaftstauglich zu machen und eine Leichtigkeit in dieses «neue» Leben hineinzubringen.

Um dieses persönliche Ziel zu erreichen, haben wir im Juni dieses Jahres den Verein Dementality gegründet. Wir beabsichtigen damit langfristig eine Oase des Wohlbefindens anhand eines physischen Standorts für Betroffene und ihr Umfeld zu entwickeln. Angehörige können dadurch entlastet werden und Demenzbetroffene werden vor Ort durch ein umfangreiches Dienstleistungsangebot ein Hauch von Freude und Lebenslust verspüren können. Denn schlussendlich leiden die Angehörigen und der enge Freundeskreis am meisten darunter. Des Weiteren wollen wir eine Früherkennung der Krankheit aufrufen. Demenz darf weder verheimlicht noch verschwiegen werden. Es ist keine Schande, an Demenz zu erkranken. Unserer Meinung nach kann man präventiv und im Frühstadium vieles bewirken.

Bis dahin möchten wir mit unserer Benefiz Veranstaltung, die wir jährlich am Welt- Alzheimertag umsetzen, mehr Aufmerksamkeit von der Gesellschaft erlangen, aber auch Demenz in die Gesellschaft miteinbeziehen. Das Alleinsein, das Abschieben, das Eingränzen, das immer noch existierende Tabu und die Hemmschwelle darüber zu sprechen, haben in unserer Gemeinschaft keinen Platz. Es geht um ein Anerkennen, Respektieren, Verständnis zeigen und vorallem Mitintegrieren dieser Menschen. Therapeutische Behandlungen wie das Malen, das Gestalten und die Musik werden an unserem Benefiz Anlass durch Kunst, Fashion und musikalischer Live Performance dargestellt. Diese Komponenten bringen Körper, Geist und Seele wieder in ein Gleichgewicht und erreichen die Menschen auf eine ganz tiefe, emotionale und originelle Art, unbedeutend ob Demenz erkrankt oder nicht.

Menschen und insbesondere Angehörige und Demenzbetroffene werden an unserem Benefiz Brunch zusammenkommen können, sich wohl fühlen, sich austauschen, flanieren und verweilen. Dabei möchten wir absolute Positivität mit einer Prise Lifestyle vermischen, denn schliesslich leben wir nicht in der Vergangenheit, sondern schauen in die Zukunft. Durch das Gelingen dieses absoluten Traumes von uns werden Betroffene wie unsere Mutter, Angehörige wie unser Vater, aber auch wir selbst als Initianten und Töchtern anhand dieser kreierten Wertschöpfung erfüllt – jede und jeder auf seine eigene persönliche Art und Weise.

«Angehörige sollen unterstützt und begleitet werden»

Sonja Hochstrasser, Ehefrau

Januar 2011. Ich mag nicht mehr, alle Gespräche, Briefe und eine Ehetherapie haben keine Veränderungen gebracht. Mein Ehemann Hans-Peter beachtet mich nicht und lässt täglich seine schlechte Laune und seinen Frust an mir aus.  So ziehe ich in die obere Wohnung unseres Zweifamilienhauses.

April 2011. Ich muss mit zur Neurologin. Verdachtsdiagnose Alzheimer, Burnout oder Depression. Auf meine Bitte um eine Unterstützung, da jetzt schon Eheprobleme da sind, werde ich vertröstet auf die psychiatrische Abklärung, der Psychiater meint er habe keine Zeit, er melde unsere Probleme dem Hausarzt und der vertröstet uns auf die Diagnoseklärung im Universitätsspital.

Dann im Juli 2011, als uns der Chefarzt die Diagnose Alzheimer mitteilt, bitte ich um eine begleitende Unterstützung und erhalte die Antwort: «Hier ist ihr Mann der Patient, es geht nicht um Sie.»

Mein Traum ist, dass in der grossen Aufgabe ein Familienmitglied mit Demenz zu begleiten, auch die Angehörigen unterstützt und begleitet werden.

August 2011. Abklärung der Fahrtauglichkeit in der Neuropsychologie des Universitätsspitals.
Hans-Peter darf weiter Autofahren. Auf meine Frage, wann die Nachprüfung sein wird, lautet die Antwort: «Für uns ist der Fall abgeschlossen, Sie können sich dann wieder melden.»

Es ist mein Traum, als Angehörige eines Demenzbetroffenen, als Mutter und als Verkehrsteilnehmerin, dass von der abklärenden Stelle Verantwortung für alle Verkehrsteilnehmer mitgetragen wird.

2014. Hans-Peter will keine Spitex, aber meine Begründung, dass sie für mich komme, passt. So habe ich an drei Tagen pro Woche, jeweils den Morgen frei für meine Praxis, die Diskussionen um die Einnahme der Medikamente haben hiermit aufgehört und am Mittag darf ich die Füsse unter einen gedeckten Tisch strecken, unsere Spitex-Frau Yvonne ist eine exzellente Köchin. Es gibt durchaus auch gute Momente

2015. Hans-Peter soll einen Tag pro Woche zur Tagesbetreuung in den Hof Obergrüt. Es braucht das ganze Durchsetzungsvermögen von mir und unserer Tochter, dass er zum Besichtigungstermin mitkommt. Luzia Hafner gelingt es, ihn zu einem Schnuppertag zu motivieren. Nun geht er jede Woche einen Tag in den Hof Obergrüt. Es tut ihm gut, wieder gebraucht zu werden und körperlich arbeiten zu können. Mir gibt es einen Tag Luft und das Beste ist, dass ich bei Luzia und ihrem Team jederzeit Rat holen kann, wenn durch die fortschreitende Krankheit neue Probleme auftauchen.

Mein Traum ist, dass auch andere Angehörige von Demenzbetroffenen eine so kompetente Unterstützung erfahren dürfen.

2016. Hans-Peter klagt nicht über seine Krankheit, erträgt alles was kommt und überlässt Entscheidungen mir. Da kommt seine Charaktereigenschaft, Probleme einfach auszusitzen und Entscheidungen aus dem Weg zu gehen zum Zug.  Ausgerechnet der Charakterzug, der mich in unserem Eheleben am meisten geärgert hat, ist in dieser Situation seine grosse Stärke – und für mich ein Segen. Es hat alles seine zwei Seiten

2017. Hans-Peter sitzt auf der Terrasse und sagt: «Lueg die schöne Blueme!» Das berührt mich, hat er doch die vergangenen Jahre nur über den unnützen Garten gewettert. Da lerne ich nach fast 30 Jahren Ehe noch eine neue Seite meines Partners kennen!

2018. Der notariell beglaubigte Vorsorgeauftrag muss von der KESB validiert werden. Laut Juristin der KESB muss sichergestellt werden, dass sich niemand am Demenzkranken bereichert und sie muss prüfen, ob ich die Verantwortung für Hans-Peter übernehmen kann. Diese Aussagen verletzen mich nach acht Jahren Pflege sehr. Ich wünsche mir mehr Einfühlungsvermögen gegenüber pflegenden Angehörigen.

Mein Traum ist, dass zukünftig Berufsleute mit Erfahrung in der Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz, solche Gespräche führen und Entscheide fällen.

2019. Nun ist Hans-Peter drei Tage pro Woche im Hof Obergrüt und immer wieder auch ferienhalber zwei bis drei Wochen. Ich brauche diese Auszeiten, da er jetzt bei allen Tätigkeiten Unterstützung benötigt und weil es anstrengend ist, täglich mehrmals Brille, Pfeife, Tabak, Feuerzeug usw. zu suchen – und selbstverständlich immer sofort…

Sohn, Tochter und ich sind zu einem Team zusammengewachsen, das ist wunderschön zu spüren und eine grosse Unterstützung. Die Begleitung ist absolut anstrengend und bringt mich oft an meine Grenzen aber es gibt durchaus auch immer wieder diese kleinen, berührenden und herzerwärmenden Momente auch mit der Krankheit oder gerade wegen der Krankheit.

«Meine Gedanken ordnen»

Robert Briner, Ehemann

Robert Briners Frau Elisabeth lebt in der Sonnweid, dem auf Demenz spezialisierten Heim im zürcherischen Wetzikon. Zürcher Der Anwalt schreibt darüber Tagebuch, seit vielen Jahren, hunderte von Seiten. Am Demenz Meet Zürich erzählte er seine bewegende Geschichte.

Impressionen Samstag

Eindrücke und Schnappschüsse

Leichte Stunden zu einem schweren Thema
Stefanie Becker (Alzheimer Schweiz) forciert das Demenzmanifest
Birte Weinheimer (Memory Clinic Entlisberg) über Essen und Demenz
Das Gastro-Team des Kulturmarkts verwöhnte kulinarisch
Auch solche Gäste gabs...
Yoga Session mit Antje Hirt
Christoph Isch & Felix Schneuwly beantworten administrative Fragen
Michael Schmieder referiert über die Bürokratie 2.0
Brigitta Schröder erklärt den Blickrichtungswechsel
Kommunikation mit Jürgen Steiner
Gefühlsdolmetschen mit Marlis Lamers
Vincenzo Paolino über die andere Denkweise
Demenz-Coach Yardena Sierra gibt Antworten auf Fragen
Andreas Monsch über die medizinische Forschung
Christoph Held, Roshan und Graziella Rossi performen
Diskussionspanel zum Tabuthema «Demenz und Sexualität»
Und auch das gehört dazu: rumliegen und geniessen

Spirit

Weitersagen und weitertragen

Das Demenz Meet hat einen ganz eigenen Geist: unkompliziert, inspirierend, bunt. Und dieser Spirit lebt von den Menschen, also von dir als Teilnehmerin oder Teilnehmer. Danke, dass du dich einbringst, frei denkst und offen sprichst. Ich freue mich auch 2020 auf gute, weil leichte und wertvolle Tage: voraussichtlich in Basel, Stuttgart, Wien, Salzburg, Zürich – und vielleicht auch noch ganz woanders… 😉

Daniel Wagner
Gründer Demenz Meet

Die Organisatorinnen und Organisatoren von Demenz Meet